Die ukrainische Luftwaffe schrieb auf Telegram, dass Russland die Stadt Dnipro zwischen fünf und sieben Uhr morgens mit verschiedenen Raketen und Marschflugkörpern angegriffen habe. Demnach ist die mutmaßliche Interkontinentalrakete aus dem russischen Gebiet Astrachan am Kaspischen Meer abgefeuert worden. Die abgefeuerten Waffen haben laut der ukrainischen Luftwaffe keine „nennenswerten Schäden“ verursacht. Derzeit gebe es keine Informationen über Tote und Verletzte. Den örtlichen Behörden zufolge wurde in Dnipro ein Industrieunternehmen beschädigt, und es seien zwei Brände in der Stadt ausgebrochen.
Russland nahm zu den Berichten zunächst nicht Stellung. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, wurde während einer Pressekonferenz telefonisch angewiesen, die Raketenschläge überhaupt nicht zu kommentieren. Zu hören war diese Anweisung durch eine Männerstimme, weil sie während des kurzen Gesprächs ihr Mikrofon nicht abgeschaltet hatte.
Was weiß man über die RS-26 Rubesch?
Laut dem ukrainischen Medienportal „Ukrainska Pravda“ soll es sich bei der mutmaßlichen Interkontinentalrakete um den Typ RS-26 Rubesch handeln. Bereits in den vergangenen Tagen wurde in ukrainischen Medien spekuliert, dass ein Einsatz dieser Rakete bevorstehen könnte. Die Waffe hat angeblich eine Reichweite von maximal 6000 Kilometern – das meiste ist allerdings unbekannt. Es wird vermutet, dass die Rakete mehrere voneinander unabhängige nukleare Gefechtsköpfe transportiere und ein Startgewicht von rund 50 Tonnen habe. Es gab auch Berichte, dass die Rubesch mit einem konventionellen Sprengkopf ausgestattet werden könne.
Aus militärischer Sicht ergebe der Angriff keinen Sinn, sagte Markus Schiller der F.A.Z. Er lehrt seit 2015 an der Universität der Bundeswehr München zu Fernflugkörpern. Er geht auch davon aus, dass es sich bei der Rubesch eher um eine ballistische Mittelstreckenrakete als um eine Interkontinentalrakete handele.
„Aus technischer Sicht schießt Russland mit Kanonen auf Spatzen“
So oder so: „Aus technischer Sicht schießt Russland mit Kanonen auf Spatzen“, sagte er. Zudem sei die Rakete nicht sehr präzise. Mit konventionellen Sprengköpfen, die Russland bei seinem Angriff offenbar eingesetzt hat, könnten nicht gezielt einzelne Häuser oder Industrieanlagen ins Visier genommen werden. „Das ist eine Terrorwaffe“, sagte Schiller. Moskau wolle offenbar ein Signal senden. Aus den Vereinigten Staaten wiederum kamen zurückhaltende Einschätzungen. So sagte eine Regierungsvertreter, der Raketenangriff sei „kein Game Changer“.
Ballistische Raketen sind aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit äußerst schwierig abzufangen. Auch moderne westliche Abwehrsysteme wie die Patriots, über die Kiew verfügt, könnten bei Interkontinental- oder Mittelstreckenraketen an ihre Grenzen stoßen. Die Rubesch fliegt laut Schiller mit einer Geschwindigkeit von rund 20.000 Kilometern die Stunde. „Damit tun sich unsere Abwehrsysteme momentan sehr schwer.“
Ein System, das zur Abwehr wohl besser geeignet wäre, ist die amerikanische Flugabwehr THAAD. Sie gilt als äußerst zuverlässig bei der Abwehr von ballistischen Raketen. Bislang hat Washington eine Lieferung allerdings ausgeschlossen. Das Land verfügt selbst über nur wenige dieser Systeme.
Kiew greift erstmals russisches Gebiet mit britischen Storm Shadow an
Auf der anderen Seite griff die Ukraine erstmals Ziele in Russland mit von Großbritannien gelieferten Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow an. Die Waffen mit einer Reichweite von mehr als 250 Kilometern sollen gegen militärische Ziele eingesetzt worden sein. Das russische Verteidigungsministerium behauptete am Donnerstag, dass es zwei Flugkörper dieses Typs abgefangen habe.
Der Einsatz geschah, einen Tag nachdem die Ukraine erstmals mit amerikanischen Raketen vom Typ ATACMS Ziele in Russland angegriffen hatte. Berichten zufolge soll mit den Raketen, die eine Reichweite von 300 Kilometern haben, eine militärische Einrichtung in Karatschew im russischen Gebiet Brjansk getroffen worden sein.
Moskau behauptet, fünf der sechs ATACMS abgeschossen zu haben
Dem russischen Verteidigungsministerium zufolge hat die russische Flugabwehr fünf der sechs ATACMS abgeschossen. Der ukrainische Präsident Selenskyj sagte, seine Streitkräfte verfügten über die genannten US-Raketen, hätten aber auch eigene Möglichkeiten, Russland zu treffen.
Zuvor hatte Selenskyj monatelang bei westlichen Verbündeten um die Erlaubnis gebeten, die gelieferten Waffen auch gegen militärische Ziele im russischen Hinterland einsetzen zu dürfen. Die USA und auch Großbritannien erlaubten selbiges, weil sie die Beteiligung nordkoreanischer Truppen am Krieg gegen die Ukraine als eine Eskalation durch Russland einstufen.
Die Regierung in London gibt sich äußerst wortkarg
Die Regierung in London gibt sich indes äußerst wortkarg. Während britische Zeitungen den Raketenbeschuss am Donnerstag auf die Titelseiten rückten, äußerte Verteidigungsminister John Healey lediglich den Satz: „Das ukrainische Vorgehen auf dem Schlachtfeld spricht für sich.“
Schon in den Tagen zuvor, nachdem US-Präsident Joe Biden die Einschränkungen für den Einsatz amerikanischer Raketen aufgehoben hatte, waren die britischen Auskünfte schmallippig. Premierminister Keir Starmer hatte gesagt, man werde dazu keine Auskünfte geben, da die Angabe von Details allein der russischen Seite nützen könne.
In den Monaten zuvor war die britische Seite mitteilungsfreudiger gewesen. Da hatte sie inoffiziell ausführlich wissen lassen, es gebe ihrerseits keine Einwände, britische Marschflugkörper auch gegen Ziele jenseits der ukrainischen Grenze in Russland einzusetzen. Es hieß weiter, Starmer habe wiederholt bei Biden dafür geworben, die amerikanischen Beschränkungen aufzuheben.
Das hatte zum einen den Grund, dass die westlichen Alliierten auf ein gemeinsames Vorgehen achten wollten. Zum anderen war der britische Einsatz von amerikanischem Einvernehmen abhängig, da in den Flugkörpern amerikanische Bauteile stecken und offenbar für ihre Zielprogrammierung amerikanische Unterstützung notwendig ist.